VITAMIN D: GUT GEGEN ALLES, GUT FÜR NICHTS?

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Privatdozentin Dr. Karin Amrein ist Fachärztin für innere Medizin, Dozentin an der Meduni Graz und Spezialistin für Vitamin D. Da in den Medien und im Internet viele Mythen rund um dieses Vitamin kursieren, haben wir Frau Dr. Amrein gebeten, die besonders häufig an sie gerichteten Fragen zu sammeln und in diesem Blogbeitrag ausführlich für ein nicht medizinisches Publikum zu beantworten.

 

Für die einen gilt Vitamin D als Wunderheilmittel, das praktisch gegen alles hilft – von Kopfschmerzen über Erschöpfung, Depressionen, Schlafstörungen, Kreislaufproblemen bis hin zu COVID-19. Für die anderen ist das alles Humbug. Wer hat recht?

Wie bei fast allem im Leben liegt die Wahrheit in der „goldenen Mitte“. Vitamin D spielt tatsächlich eine enorm wichtige Rolle für die menschliche Gesundheit, aber der individuelle Effekt wird oft übertrieben dargestellt bzw. überschätzt. Mit ein paar Tropfen Vitamin D kann man nicht jede schwere COVID-Erkrankung verhindern, aber ein ausreichend hoher Vitamin D-Spiegel ist eine wichtige Grundvoraussetzung, damit das Immunsystem gut funktioniert und seine Aufgaben optimal erfüllen kann.

Dass Vitamin D Atemwegsinfekte verhindern kann, wissen wir hingegen sehr genau. Dieser Effekt ist zwar nur klein, aber gesamtgesellschaftlich gerade in dieser Pandemie extrem wichtig. Auch für die Muskelfunktionen und für den Knochenaufbau ist Vitamin D unverzichtbar. Die klassische Mangelerscheinung bei Kindern ist die Rachitis, die „verbogene Knochen-Krankheit“, die vermeidbar wäre, die es aber leider immer noch gibt – auch in Österreich.

Stimmt es, dass der Körper Vitamin D selbst bilden kann? Wie kann es dann zu einem Mangel kommen?

Vitamin D ist tatsächlich kein klassisches Vitamin. Erstens, weil Vitamin D an einen Zellkern-Rezeptor andockt und dort sogar Einfluss auf menschliche Gene hat –wie ein Hormon. Zweitens, weil wir es mit genügend Sonnenlicht selbst herstellen können und „echte“ Vitamine normalerweise von außen zugeführt werden müssen. Dennoch zeigen Studien, dass in Europa rund 40 Prozent der Gesamtbevölkerung einen Mangel aufweisen. Das liegt unter anderem an unseren „modernen“ Lebensgewohnheiten. Viele Jahrtausende lang waren die Menschen die meiste Zeit über im Freien. Heute sind wir fast nur noch in Innenräumen und wenn wir in die Sonne gehen, halten wir die UV-Strahlung oft mit Sonnencreme ab. Mit dieser rasanten Entwicklung konnte die Evolution nicht Schritt halten. Außerdem ist die Lebenserwartung – glücklicherweise – deutlich gestiegen. Wenn die Gesellschaft „älter“ wird, wird sie aber auch „kränker“. Das ist ein weiterer Grund für den verbreiteten Mangel an Vitamin D.


Die einen schwören auf Sonne und fetten Fisch, die anderen warnen vor Hautkrebs und Übergewicht. Wie bekommen wir genügend Vitamin D und wieviel ist genug?

Da wird oft ein Konflikt hochstilisiert, den es in Wahrheit gar nicht gibt. Ja, die wichtigste Vitamin D-Quelle ist tatsächlich Sonnenlicht – aber ganz ohne Sonnenbrand. Bei uns in Mitteleuropa reicht es im Frühling, Sommer und Herbst vollkommen aus, wenn man sich täglich 10 bis 15 Minuten in der Sonne aufhält und dabei Gesicht und Arme der UV-Strahlung aussetzt. Wohlgemerkt: ohne Sonnencreme, denn sonst erzielt man kaum eine Wirkung. In der Winterzeit wird es hingegen schwierig, weil es einfach zu dunkel ist. Um diese Zeitspanne zu überbrücken, reicht auch ein gut gefüllter Vitamin D-Speicher kaum aus. Es ist daher oft sinnvoll, im Winterquartal oder sogar -halbjahr ergänzend etwas einzunehmen.  Will man den Vitamin D-Bedarf ausschließlich aus der Nahrung decken, wird es problematisch: Untersuchungen haben ergeben, dass die typische mitteleuropäische Ernährung maximal 100 Einheiten Vitamin D pro Tag enthält – gesunde Menschen benötigen aber 600 bis 800 Einheiten.  Speisen, die viel Vitamin D enthalten, sollten weder täglich noch in großen Mengen verzehrt werden, wie zum Beispiel fetter Fisch oder Eier. Das gilt auch für sonnenbestrahlte Pilze, die in Internet-Ratgebern oft als pflanzliche Vitamin D-Quelle empfohlen werden.


Kann man einen Vitamin D-Mangel selbst erkennen und behandeln oder muss man dafür zum Arzt?

Leider sind die Symptome von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich. Die typische Osteomalazie, die man umgangssprachlich als „Knochenerweichung“ bezeichnet, tritt erst bei einem sehr schweren Mangel auf, genauso wie die Rachitis bei Kindern. Bei leichteren Formen sind die Beschwerden unspezifisch. Es gab Fälle, wo Kinder häufig Knochenbrüche hatten. Da standen die Eltern sogar unter Verdacht der Kindesmisshandlung – und in Wirklichkeit war es ein Vitamin D-Mangel. Im ersten Lebensjahr wird zwar fast überall in Europa eine vorbeugende Vitamin D-Gabe empfohlen, aber was ist dann im zweiten, dritten, vierten Jahr? Es ist deshalb sicher kein Fehler, wenn man seinen Kindern im Wachstum Vitamin D gibt, besonders im Winter. Das gilt übrigens auch für andere Risikogruppen wie Schichtarbeiter, Schwangere, stark übergewichtige Personen, Menschen mit chronischen Darmerkrankungen, aber auch Senioren, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Aus Studien wissen wir, dass hier der Vitamin D-Spiegel meist deutlich niedriger ist als bei anderen Menschen – in Altersheimen wurde z.B. bei über 90 Prozent der BewohnerInnen ein Mangel festgestellt. Aus ärztlicher Sicht macht es natürlich Sinn, den genauen Vitamin-Spiegel zu bestimmen, dann die benötigte Dosis zu verabreichen und abschließend das Resultat zu kontrollieren. Betrachtet man aber die Gesamtbevölkerung, ist es wesentlich zielführender und kostengünstiger, regelmäßig und breitflächig eine geringe Dosis Vitamin D zuzuführen als viel Geld in personalisierte Medizin zu stecken.

Bei Atemwegserkrankungen, besonders im Zusammenhang mit COVID-19, wird Vitamin D oft als „Heilsbringer“ dargestellt. Wie ist der aktuelle Stand der Wissenschaft?

Im Bereich der Atemwegserkrankungen wie z.B. Asthma gibt es schon sehr gute Daten. Wir haben Meta-Analysen, die zeigen: Vitamin D schützt eindeutig. Dabei hat sich auch gezeigt, dass eine regelmäßige Gabe deutlich im Vorteil war gegenüber einer monatlichen oder noch selteneren Verabreichung von Vitamin D. Um einen Vergleich zu bringen: Eine Zimmerpflanze braucht auch regelmäßig Wasser, nicht an einem Tag einen ganzen Kübel und dann wieder wochenlang keinen Tropfen.

Betrachtet man speziell COVID-19, gilt es zu unterscheiden: Treffe ich eine Aussage bezüglich eines einzelnen Menschen oder geht es um die Gesamtbevölkerung? Dass Vitamin D einen schützenden Effekt hat, wurde in einer Studie 2021 noch einmal bestätigt. Aber es ist kein Wundermittel – es kann keine schweren Verläufe verhindern und ersetzt keinesfalls die Impfung. Man darf sich nicht denken: „Ok, ich nehme Vitamin D ein und dann kann ich ohne Maske im Club abfeiern.“ Der positive Effekt macht sich nämlich erst in Public Health-Zusammenhängen signifikant bemerkbar, wo man größere Personenkreise betrachtet. Aus dieser Perspektive wäre es äußerst wünschenswert, wenn wir alle einen guten Vitamin D-Status hätten! Großbritannien hat zum Beispiel an ältere Personengruppen Vitamin D verteilt und zwar in niedriger Dosierung von 400 Einheiten täglich. Das ist kostengünstig und hat in dieser Größenordnung keine Nebenwirkungen.

Man hört auch von extrem hochdosierten Vitamin D-Gaben. Ist das nun gesund oder ungesund?

Auch auf diese Frage gibt es keine allgemeingültige Antwort – es kommt darauf an. Wenn jemand im Großen und Ganzen fit ist und einen leichten Mangel aufweist, dann reicht eine niedrige Dosierung an Vitamin D in Kombination mit regelmäßiger Bewegung bei Tageslicht, um die Speicher wieder aufzufüllen. Man könnte auch am Anfang kurzzeitig etwas höher dosieren und später zu einer niedrigeren Erhaltungsdosis übergehen. Wichtig ist hier vor allem, auf die Produktqualität und
-herkunft zu achten und die Anleitung zu befolgen. Die meisten Vitamin-D-Präparate am Markt sind Nahrungsergänzungsmittel und unterliegen somit nicht einer strengen Arzneimittelkontrolle. Bestellt man sich ein Präparat im Internet, bleibt der genaue Inhalt unklar – es sind Fälle mit zu hoher Konzentration genauso bekannt geworden wie solche mit zu niedriger.  Mit Präparaten von namhaften Herstellern und Beratung aus der Apotheke des Vertrauens ist man hingegen auf der sichereren Seite. Hochdosierte Vitamin D-Gaben sind etwas ganz anderes. Wenn jemand zum Beispiel kritisch krank ist und auf der Intensivstation liegt, dann haben wir die Hypothese, dass ein rascher Ausgleich des Vitamin D-Mangels die sekundären Probleme reduziert. Zum Beispiel, dass seltener Infekte auftreten oder dass kürzer künstlich beatmet werden muss. In diesem Fall kann ich nicht sagen: „Gut, dann schiebe ich den Patienten eben in die Sonne!“ In solchen spezifischen Settings – und NUR in diesen – geben wir einmalig eine sehr hohe Ladedosis und danach 4.000 Einheiten täglich, also die maximal empfohlene Tagesdosis. Oder wenn jemandem eine Operation bevorsteht und aufgrund eines starken Vitamin D-Mangels Wundheilungsstörungen zu erwarten sind, dann kann ebenfalls eine Bolusgabe sinnvoll sein. Aber das sind Ausnahmen!

Prinzipiell gilt bei Vitamin D: Weniger ist mehr und regelmäßige Zufuhr ist am besten.


Anmerkung der Redaktion:
Weiterführende Infos zu Vitamin D finden Sie auch hier http://www.vitamin-d-wie-du.at/